Zeitgenossen im Gespräch: "Kafka ist für mich eine lebenslange Leidenschaft" - Saul Friedländer

Der israelische Historiker (Holocaustforscher) und Pulitzerpreisträger (2008) Saul Friedländer im Gespräch mit Michael Kerbler über sein neues Kafka-Buch.

Seine Liebe zu Franz Kafka – so merkte Saul Friedländer einmal an – sei eine "lebenslange Leidenschaft". Als 15-Jähriger liest Friedländer sein erstes Kafka-Buch. Einige erstaunliche familiäre Parallelen gibt es zwischen beiden Familien: Sein Vater studierte so wie Kafkas Papa an der Karlsuniversität Jus und auch er wurde Angestellter einer Versicherung. Drei von Kafkas Schwestern wurden im Konzentrationslager Auschwitz ermordet – so wie Friedländers Eltern.

Der israelische Autor erfüllt sich mit der Abfassung der Biografie Kafkas einen langgehegten Wunsch. Friedländer betont, dass er kein Literaturwissenschaftler sei. Und dennoch: Sein Auge sieht manches, was die Kafka-Forschung bisher nicht wahrgenommen hat. Mit profunder Kenntnis der Werke, mit feinem Humor und präziser Beobachtungsgabe porträtiert Saul Friedlander Franz Kafka als Dichter der Scham und der Schuld. Er geht seinem Leben nach, analysiert die Ironie Kafkas und spürt dem Seelenleben des Dichters nach, das tiefe Spuren in dessen Werk hinterlassen hat.

Im Mittelpunkt des langen Essays, das jüngst unter dem Titel "Franz Kafka" bei C.H. Beck erschienen ist, steht eine Frage, an der sich Saul Friedländer mit nahezu kriminalistischer Obsession abarbeitet: "Wie kann Schuld und Scham schöpferisch verarbeitet werden?" Am Beginn der Spurensuche findet sich schon wenige Seiten nach Beginn der Satz: "Aus den Tagebüchern und dem Briefwechsel (mit Max Brod, Anm. d. A.) geht mit hinreichender Deutlichkeit hervor, dass die Probleme, die Kafka während des größten Teils seines Lebens peinigten – abgesehen von dem beständigen Grübeln über sein Schreiben, die Quintessenz seines Seins – sexueller Natur waren." Was folgt, ist eine Spurensuche, die detailreich und erhellend über zweihundert Seiten führt.

Friedländers Darlegungen über die Psyche Kafkas, und seine Analysen, aus welchen Quellen sich damit sein literarisches Schaffen speiste, löst auch Irritationen aus, obwohl schon andere Autoren – wie der Kafka-Biograf Reiner Stach – ausführlich auf Kafkas psychische Probleme, dessen Zwangsgedanken, Gewalt- und Zerstückelungsfantasien hingewiesen haben. Friedländer fügt einige zusätzliche Facetten Kafkas, was dessen sexuelle Fantasien angeht, hinzu und spannt einen Bogen zum literarischen Werk Kafkas.

Saul Friedländers jüngstes Buch stand im Mittelpunkt der Matinee "Zeitgenossen im Gespräch". Allerdings drängten sich auch Fragen zur Person des Autors, der im Oktober seinen 80. Geburtstag feierte, und zu seinen wissenschaftlichen Werken, die er als Historiker geschaffen hat, auf.

Saul Friedlander wurde am 11. Oktober 1932 als Pavel Friedländer in Prag als Sohn eines Beamten einer deutschen Versicherungsgesellschaft geboren. Aufgrund ihrer jüdischen Wurzeln emigriert die Familie 1939 nach der Besetzung Prags durch die Deutschen nach Frankreich. Ohne Aussicht auf eine erneute Fluchtmöglichkeit nach dem Einmarsch der Deutschen in Frankreich, geben die Eltern Saul Friedländer in die Obhut eines katholischen Internats. Während ihr Sohn als Internatsschüler und getaufter Katholik unter dem Namen Paul-Henri Ferland überlebt, werden die Eltern 1942 im Konzentrationslager Auschwitz ermordet.

Nach dem Krieg wendet sich Friedländer unter dem Eindruck des Holocaust dem Judentum zu und wandert 1948 in den neu gegründeten Staat Israel aus. Nach dem Studium an der School of Law and Economics in Tel Aviv erwirbt Friedlander 1955 am Pariser Institut d'Etudes Politiques das Diplom der Politikwissenschaften. 1963 promoviert er in Genf und beginnt am Genfer Institut für Internationale Studien seine akademische Laufbahn. Das Hauptinteresse seiner wissenschaftlichen Arbeit gilt dem Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg, wobei sein methodischer Ansatz von der strikt sachlichen Geschichtswissenschaft abweicht und somit die Kriterien persönliche Verantwortung und
moralische Sensibilität in die Historiografie einbringt.

Aufmerksamkeit gewinnt er 1964 mit der Studie "Pius XII. und das Dritte Reich", die in einer differenzierten Quellenanalyse die Zurückhaltung des Papstes angesichts der Shoah untersucht. In "Wenn die Erinnerung kommt" (1978) berichtet Friedländer in einer Verschränkung von Rückblenden und Gegenwart über seine eigene Kindheit und, in Tagebuchaufzeichnungen aus dem Jahr 1977, über sein augenblickliches Leben mit beeindruckender Intensität und Würde.

Diesem Buch folgen mit "Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus" (1981) Reflexionen über den Umgang mit dem Grauen der Nazizeit, in denen Friedländer die Instrumentalisierung menschlicher Leiden für die Zwecke der Medien und des Kommerzes kritisiert. Als Opus Magnum gilt zweifellos Saul Friedländers Synthese seiner wissenschaftlichen Arbeit, die als zweibändiges Werk unter dem Titel "Das Dritte Reich und die Juden" bekannt ist.

Für seine wissenschaftliche und literarische Tätigkeit hat Saul Friedländer zahlreiche Ehrungen verliehen bekommen: so etwa den Preis der Leipziger Buchmesse (2007), den Geschwister-Scholl-Preis (1998), den Yad Vashem Jacob Buchmann Award (1997), den National Jewish Book Award (1997) und den Israel Prize (1983). Im Oktober 2007 erhielt Saul Friedländer den "Friedenspreis des Deutschen Buchhandels", im Marz 2008 den Bruno-Kreisky-Preis für sein Lebenswerk und einen Monat darauf den Pulitzer-Preis.

Text: Michael Kerbler

Service

Zeitgenossen im Gespräch: "Kafka ist für mich eine lebenslange Leidenschaft" - Saul Friedländer
Sonntag, 25. November 2012
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