Im Zeit-Raum: Neue Erziehungskultur
Die Literatur der Erziehungsratgeber füllt halbe Buchhandlungen. In einschlägigen Fernsehsendungen geben "Super-Nannies" ihre Notfalls-Ratschläge zum Besten. Natürlich gibt es spezifische Probleme mit Verwahrlosung, Verwöhnung, Disziplin- und Orientierungslosigkeit. Das soll nicht geleugnet werden und bedarf der Reflexion. Die Frage ist nur, ob sich diese Probleme durch einzelne Erziehungsmaßnahmen lösen lassen?
Beziehung statt Erziehung
Wenn Kinder zu Erwachsenen werden, kommt es nicht nur zu schnellen biologischen und seelischen Veränderungen, sondern es wandelt sich auch das Verhältnis zu den Eltern. Diese reagieren oft - zumindest wenn sie hoch engagiert sind - mit Verzweiflung auf ihre vergeblich scheinenden Erziehungsversuche. Sie wissen nicht, dass ihre Kinder nur wenig durch Erziehung, sondern das meiste durch Beziehung lernen. Dieser Überzeugung ist der international renommierte dänische Familientherapeut Jesper Juul.
Verhalten lernen durch Imitation
Juul geht davon aus, dass ein Kind von Geburt an sozial und emotional ebenso kompetent ist wie ein Erwachsener. Diese Kompetenz, die sich entsprechend der kindlichen Reife äußert, muss ihm nicht erst durch Erziehung beigebracht werden. Die traditionelle Erziehung benutzt hauptsächlich verbale Strategien. Dabei wird ignoriert, dass Kinder Verhalten durch Imitation lernen. Sie müssen beobachten und experimentieren dürfen, dann fügen sie sich durch Nachahmung in die Kultur ein. So kooperieren Kinder. Wenn Kinder dauernd ermahnt werden oder ihnen ständig etwas erklärt wird, kann das bewirken, dass sie sich dumm oder falsch fühlen. So wird dem Selbstbild und der Selbstachtung der Kinder Schaden zugefügt.
Kindliche Integrität
Jedes auffällige Verhalten von Kindern und Jugendlichen, so Juul, kann man auf zwei Ursachen zurückführen: Entweder haben Erwachsene die kindliche Integrität verletzt oder die Kinder haben überkooperiert. Für Juul geht es darum, herauszufinden "wer das Kind ist" und nicht zu erklären, "warum es sich so verhält". Dieses Vorgehen hält Juul für den einzigen Weg, eine tragfähige Beziehung zum Kind herzustellen.
Der Familientherapeut Jesper Juul ist Gründer und Leiter des Kempler Institute of Scandinavia in Odder in Dänemark und machte die Gestalttherapie in Dänemark bekannt. In Kroatien und Bosnien leistete Jesper Juul therapeutische Familienarbeit in Flüchtlingslagern. Er ist Autor von Erziehungsratgebern, von denen bisher sechs auf Deutsch erschienen sind. Daneben verfolgt er sein Projekt FamilyLab International. Seit 1991 arbeitet er ein Viertel jedes Jahres mit Flüchtlingsfamilien und Kriegsveteranen in Kroatien.
Text: Johannes Kaup
Eine Veranstaltung in Kooperation mit der Wiener Zeitung.
Im Zeit-Raum: Familien in stürmischen Zeiten - Brauchen wir eine neue Erziehungskultur?
Donnerstag, 18. Juni 2009
18:30 Uhr
Großer Sendesaal