Porträt von Hans Joas.

Hans Joas © Stefan Schwendtner

Hans Joas

Der bekannte deutsche Sozialphilosoph spricht mit Johannes Kaup über "Die Macht des Heiligen" in all seinen Erscheinungsformen.

Jeder Mensch kennt das Heilige, auch wenn er gar nicht religiös ist. Dieser Überzeugung ist einer der international einflussreichsten Sozialphilosophen der Gegenwart: Hans Joas. Jeder Mensch hat im Laufe seines Lebens intensive menschliche Erlebnisse, bei denen er die Erfahrung macht, durch etwas aus dem Alltag oder aus den bisherigen Grenzen der Person herausgerissen zu werden. Es sind Erfahrungen, die ihn tief in seinem Inneren berühren. Hans Joas nennt das die Erfahrungen der Selbsttranszendenz.

Solche Erfahrungen haben eine enorme Motivationskraft. Das lässt sich an einem nichtreligiösen Beispiel zeigen: Wer sich beispielsweise verliebt, begegnet einer Person, die einen tief berührt und nicht mehr loslässt. Wenn sich das in eine dauerhafte Liebe verwandelt, verändert dies das eigene Selbst. Das Zentrum des eigenen Denkens und Lebens öffnet sich dadurch von einer reinen Selbstfixiertheit auf ein Du hin.
In seinem viel beachteten Werk "Die Macht des Heiligen" zeigt er, dass die Erfahrung des Heiligen etwas universell Menschliches ist. Seinen soziologischen Forschungen zufolge haben selbst Menschen, die einen Gottesglauben ablehnen, einen Hang zur sakralen Verehrung.

Auch in großen politischen Bewegungen, wie etwa in der streng säkularen sozialistischen Arbeiterbewegung, wurde beispielsweise die Rote Fahne verehrt. In der Sowjetzeit wurde der einbalsamierte Leichnam Lenins in einem Mausoleum zur heiligen Pilgerstätte für Millionen. Ganz zu schweigen vom monströsen Personenkult, der um den chinesischen Kommunistenführer Mao Zedong betrieben wurde. Und selbst liberale Humanist/innen sind überzeugt davon, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, und bestehen daher auf der "Sakralität" jeder Person.
Ein besonderes Augenmerk wirft Hans Joas mit dem Untertitel seines Werkes, der "Eine Alternative zur Geschichte der Entzauberung" lautet, darüber hinaus auf die Theorien des legendären Soziologen Max Weber. Dieser beschrieb 1919 eine gesellschaftliche Entwicklung, die sich infolge von Rationalisierung, Intellektualisierung und Verwissenschaftlichung abzeichnete: die "Entzauberung der Welt". – Hans Joas weist nun nach, dass um 1900 die Vorstellung, wie das Heilige und das Religiöse sich zueinander verhalten, auf den Kopf gestellt wurde.

Das Heilige wird nicht mehr als Bestandteil vorhandener Religionen begriffen, sodass manche Leute meinen, da sie selber nicht religiös sind, hätten sie auch keinen Zugang zum Heiligen. Es ist umgekehrt: Religionen sind Versuche, die Erfahrungen des Heiligen zu formulieren, sie anderen zugänglich zu machen, sie Heranwachsenden weiterzugeben und auf dieser Basis Institutionen aufzubauen. Oder um Hans Joas zu zitieren: "Das Heilige aber weht auch außerhalb der Religionen."

Diese Erkenntnis wirft eine Reihe neuer spannender und kritischer Fragen auf, die Johannes Kaup im Gespräch mit Hans Joas ergründet.

Anzeige

In Kooperation mit der Tageszeitung Die Presse.