Judith Kohlenberger

(c) Elodie Grethen

Im Zeit-Raum: Die Macht der Zivilgesellschaft

Johannes Kaup im Gespräch mit der Kulturwissenschaftlerin und Migrationsforscherin Judith Kohlenberger

Wir stehen angesichts der Kulmination multipler Krisen vor der riesigen Herausforderung einer Kehrtwende auf vielen Ebenen. Unsere Welt ist geprägt von massiver Ungleichheit, die Milliarden Menschen in extremer Armut hält. Unser fossiles Energiesystem, das das Klima durch CO2-Emissionen an den Rand des Kollapses bringt, braucht eine Energie-Revolution. Die industrielle Ernährung und die Art und Weise der Nahrungsmittelproduktion zerstört die Natur und fördert ein Massensterben von Tieren und Pflanzen.

Unser materieller Fußabdruck auf unserem endlichen Planeten darf nicht mehr weiterwachsen. Das alles wissen wir. Wir stehen nun vor der Jahrhundert-Aufgabe, eine systemische Transformation all dieser Baustellen schon in den nächsten Jahrzehnten zu schaffen. Das klingt zunächst nach einem Ding der Unmöglichkeit. Aber ist es unmöglich? – Nein, es ist möglich. Dann, wenn wir alle unsere Kräfte in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft für einen großen Sprung bündeln. Die Aufgabe ist, einen radikalen Wandel hin zu einer gleicheren, freieren, gerechteren, solidarischeren und nachhaltigen Welt zu schaffen. Entscheidend dabei wird die Rolle der Zivilgesellschaft sein.

Damit das keine Utopie bleibt, sondern zu einer realistischen Hoffnung wird, braucht es sowohl Klugheit als auch den Mut der Einzelnen. Letzterer ist für Hannah Arendt die politische Kardinaltugend. Mut heißt französisch "courage" und verweist damit darauf, dass es etwas mit dem "cœur", also mit Herzen zu tun hat. Es bedeutet, beherzt zu sein und tapfer zu handeln. Die jüngere Geschichte hat gezeigt, dass viele politische Richtungsentscheidungen durch das mutige Engagement der Zivilgesellschaft in Gang gesetzt worden sind.

Der gemeinsame Einsatz für Gerechtigkeit, also das Engagement gegen Ungleichheit, Ausgrenzung und Ausschluss und für ein gutes Leben für alle ist eine der Hauptmotivationen für den Wandel. Eine zweite ebenso bedeutende ist Liebe und Mitgefühl. Daneben sieht man vor allem bei den jüngeren zivilgesellschaftlich Engagierten, dass der Wunsch nach Gemeinschaft, Freundschaft, Austausch mit Gleichgesinnten und die Freude an positiver Veränderung dabei ein wichtiger Faktor ist.

Was leistet die Zivilgesellschaft für die Transformation? Wie entsteht Engagement und was fördert es? Vor welchen Irrtümern und Sackgassen muss sie sich hüten? Wie helfen soziale Medien zur Information und Vernetzung der Zivilgesellschaft und wie kann man sich gegen mögliche negative Effekte wie Distanz, Ausschluss, Einsamkeit oder auch Radikalisierung wappnen? Was zeichnet progressiv Couragierte in der Zivilgesellschaft aus? – "Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch", sagte Hölderlin. Wodurch können zivilgesellschaftlich Engagierte zum Faktor des Rettenden werden?

Judith Kohlenberger ist Migrationsforscherin am Institut für Sozialpolitik der WU Wien, wo sie zu Fluchtmigration, Integration und Zugehörigkeit forscht und lehrt. Ihre Arbeiten wurden durch mehrere Preise ausgezeichnet. Sie ist Vorsitzende des Integrationsrats der Stadt Wien und Generalsekretärin der Schumpeter Gesellschaft Wien. Kohlenberger engagiert sich bei COURAGE – Mut zur Menschlichkeit für legale Fluchtwege und setzt sich beim Wissenschaftsnetzwerk Diskurs dafür ein, dass wissenschaftliche Erkenntnisse im öffentlichen Diskurs und in politischen Entscheidungen zum Tragen kommen. Kohlenberger publizierte die Bücher "Wir" (2021), "Das Fluchtparadox" (2022) und kürzlich "Die Couragierten – über die transformative Kraft der Zivilgesellschaft" (2022).

In Kooperation mit der Tageszeitung "Die Presse".